Das andere Anders

Im Anschluss an Teil 1 des Vortrags , folgt nun der 2. Teil des Vortrags in Bonn „Leben mit Autismus“ am 14. April 2018

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ein Beitrag von Katrin Kornke

Jahrelang hat man geglaubt, dass weibliche Autisten verhältnismäßig selten sind.Und noch immer werden viel mehr Jungen diagnostiziert als Mädchen.
Das ist nicht nur in Deutschland so, das deckt sich mit anderen Ländern auch.

In etwa kommen auf ein diagnostiziertes Mädchen im Grundschulalter, 2 autistische Jungen.
Mit der Verhaltensauffälligkeit, die vielleicht bereits im Kindergarten kaum tragbar war, ist eine Beschulung schwierig.
Also sind Eltern und Lehrer verzweifelt und suchen Rat – damit beginnt fast immer das typische Diagnoseprocedere für Autisten, die nicht zusätzlich eine geistige Einschränkung haben.
Und meist sind es die autistischen Jungen, die eben mit herausforderndem Verhalten und mit bizarren Sonderlichkeiten schnell auffallen – denn hier hat ja in den Vergangenen Jahren in der Diagnostik und auch im Wissen der Ärzte einiges getan.
Die Jungen haben zudem noch oft untypische Spezialinteressen – sie sammeln Daten aus dem Lexikon oder sind vielleicht typisch autistische Zahlenmenschen – aber soziale Trampeltiere….oder eben besonders zurückhaltend und schüchtern.Ein autistisches Mädchen bedient viel seltener autistische Klischees.
Zurückhaltung und Schüchternheit sind sowieso weibliche Attribute… und für einen Lehrer gar nicht mal so unangenehm.
Autistische Mädchen haben sogar oft etwas sehr sanftes und damit sind sie auch sozial innerhalb einer Mädchengruppe nicht ganz so auffällig.
Auch autistische Mädchen entwickeln Spezialinteressen – das sind aber häufiger Themengebiete, die man als typisch Mädchen einstuft – nicht typisch autistisch.
Sie sammeln vielleicht alle möglichen Daten und Fakten über Pferde – oder was ist gerade so in in dem Alter?  Meine Nichte sammelte in dem Alter alle Fakten und Dialoge über Disney Filme.
Damit verkriechen sie sich dann zu Hause ebenso – fliehen aus dem Alltag – der sie überfordert…
Genauso wie autistische Jungen – die sich mit dem Lexikon oder mit Pokemon verkriechen.

Mädchen allgemein passen sich oft viel besser an und kopieren Verhalten, die sie sozial und gesellschaftsfähig machen.
Autistischen Mädchen gelingt das ebenso besser als autistischen Jungen. Sie kommunizieren oft geschickter, angemessener – das bedeutet nicht, dass sie es aus ihrer Intuition heraus können – so wie das ihre nichtautistischen Klassenkameradinen tun.
Sie setzen meist ihre ganze Energie und ihre ganz Kraft und Aufmerksamkeit in diese Tarnung und Anpassung – reagieren dann zu Hause oft völlig über – erschöpft, weinerlich – vielfach werden sie krank.
Das schiebt man auf allerlei körperliche Befindlichkeiten. Mal eine Erkältung – eine Allergie… Nahrungsmittelunverträglichkeit…und so weiter. Irgendwas findet sich immer. Man muss ja eine Erklärung finden.

Kaum ein Kinderarzt der aufgesucht wird, ahnt was dahinter steckt. Schulangst wird als Erklärung gerne genommen – Spannungen in der Familie etc.

Während man bei einem autistischen Jungen aufgrund seiner Diagnose recht früh auf die wahren Ursachen schauen kann. Und damit auch auf die wahren Bedürfnisse und Rahmenbedingungen – erhält das autistische Mädchen aber das Stigma… schüchtern, introvertiert, dumm, faul, vernachlässigt… und so weiter.

“Hochfunktionale, erwachsene Autisten sind alle spät diagnostiziert.
Weil außer der Diagnose “frühkindlicher Autismus” die Diagnose für Autisten ohne geistige Behinderung erst etwa 1990 möglich war.

Wir alle haben damit einen mehr oder weniger langen Leidensweg mit Stigmatisierung und falschen Diagnosen hinter uns.”
Auch wenn insgesamt heute eine bessere und frühere Erkennbarkeit möglich ist, werden die meisten Mädchen nach wie vor nicht so schnell erkannt – oder gar nicht erkannt.
Sie leiden still vor sich hin… ohne adäquate Hilfen, ohne Verständnis, ohne Nachteilsausgleiche, die sie vielleicht dringend bräuchten.
Und das fatale ist, sie selbst erfahren vielleicht niemals, dass sie aufgrund eines anderes Denkens so sind – sondern nehmen alle Stigmatisierungen an, die sie von der Umgebung so im Laufe der Zeit erhalten.
Und sie werden sie erhalten.

Darum ist es dringend notwendig, dass man das separat thematisiert.
Wir haben in dem vorherigen Vortrag von der wahnsinnigen Anpassungsstrategie gehört.

Alle gut und normal begabten Autisten haben mehr oder weniger das hohe Bedürfnis, nicht aufzufallen.
Die Frauen können das meist um einiges besser. Die Umwelt verlangt zudem noch immer von Mädchen viel häufiger angepasstes, soziales und gesellschaftskonformes Verhalten.
Wir sind oft von jungen Jahren an wesentlich unauffälliger und in der autistischen Symptomatik nicht so präsent, wie die Jungen. Die gesamten Diagnosekriterien haben sich zudem an unsere männlichen Artgenossen entwickelt und wurden in all den Jahren, wo bekannt ist, dass auch weibliche Autisten zahlenmäßig relevant sind nicht geändert.

Mädchen werden in der Diagnostik also nach typischen Jungenthemen gefragt – zb was das Spezialinteresse angeht.
Aber auch abweichendes soziales Verhalten, welches eben untypisch für Jungen gleicher Altersklasse wären – nicht untypisch für ein Mädchen.
So fallen wir durchs Raster.. erhalten vielleicht so etwas wie… autistische Züge… damit ändern sich nicht die Schwierigkeiten. Und auch nicht der vorhandene Hilfe – oder Unterstützungsbedarf.

Darum ist der hohe Preis, den weibliche Autisten zahlen müssen leider auch oft ebenso höher.
Wir erhalten jahrzehntelang keinerlei Antworten für unsere Situation und finden weder innerhalb der Gesellschaft einen Platz, noch finden wir zu uns selbst.
Das heißt für alle die sich konfrontiert sehen, mit Verhalten von weiblichen Personen, die an sogn. autistische Züge denken lassen, dass die Wahrscheinlichkeit besteht, dass sie nicht die volle Punktzahl des Cut offs erreichen – und so immer knapp unterhalb der Diagnose vorbei schrabben.
Autistische Mädchen und junge Frauen haben teilweise großes Interesse daran, ihre Umgebung genau zu studieren.
Normgerechtes Verhalten kann sehr interessant sein – affektiertes Verhalten gleichaltriger Frauen wird aufmerksam beobachtet oder vor einem Spiegel so lange geübt, bis es sitzt.
Auch das sind Daten und Fakten, die gesammelt werden.
Auch wenn sie mitunter etwas hölzern wirken, überzogen höflich wirken, wenn sie angewandt werden.
Das liegt Jungen eher fern.
Allein aus der Tatsache heraus, sollten alle ihre Aufmerksamkeit dahingehend erhöhen.
Es ist vielleicht keine Absicht – dennoch ist es ein Vergehen an allen jungen Mädchen und heranwachsenden Frauen, wenn ihnen die Diagnose verwehrt oder abgesprochen wird, die ihnen eine gewisse Antwort auf ihr “Andersfühlen” und ”Andersdenken” geben könnte.

Es ist für jeden Menschen wichtig, zu wissen: “Ich bin nicht faul, ich bin nicht dumm, ich bin nicht asozial – ich bin einfach anders und ich bin nicht damit alleine.”
Seien sie aufmerksamer, wenn bereits in der Familie Autismus oder ADHS besteht.
Die Wahrscheinlichkeit ist nun einmal größer.
Die autistische Schwester wird sich im Vergleich zu ihrem autistischen Bruder ganz anders verhalten… die Gefahr ist groß, dass man ihre Not nicht sieht.
Bis die Kompensationen versagen. Und diese Zeit wird kommen.
Spätestens beim ersten Zusammenbruch fallen sie sowieso auf.

Keiner Autistin ist geholfen, wenn Sie dann dadurch falsche Diagnosen irgendwelcher psychischen Erkrankungen erhält, wenn sie mit dem selben Maßstäben sich messen lassen muss, der für Menschen ohne Autismus – oder für männliche Autisten konzipiert wurde.<

Jede von uns autistischen Frauen hat da ihre eigene Geschichte – jede für sich könnte hier erzählt, Ihnen deutlich machen, dass Autistinnen anders sind.

 

Ich erzähle einmal an meiner Geschichte, welche Auswirkungen ein unerkannter Autismus für das Schicksal derjenigen haben kann:

Mein Leben in dieser Gesellschaft war – in eigentlich allen Entwicklungsstufen – bis zu meiner Autismusdiagnose der blanke Horror.
Ich war so das schwarze Schaf – auch im Vergleich zu meinen Geschwistern, immer diejenige, die negativ auffiel. Mit dem ewig muffeligem Gesicht – oder bockigem Verhalten.
Mein Gesicht passte zu den Anlässen nicht.
Ach – es sind viele Dinge über mich gesagt worden – mit mir war selten jemand im Gespräch.
Die Dinge die über mich gesagt wurden, wie ich sei – wie ich mich benahm – wie ich schaute … das hab ich dann nie so empfunden.
Es passte nicht zu dem Gefühl.

“Du guckst wieder muffelig”!
Achso…das ist dann muffelig wenn ich das fühle? Okay… das musste ich ja glauben.

Sie waren die Erwachsenen – ich war das Kind.

So habe ich eigentlich nie wirklich passende Gefühle gehabt, die zu den Urteilen und Wörtern passten – die sie für mich hatten.
Eigentlich lernt man damit, dass man sich und seinen Gefühlen nicht trauen kann.
Ich schaute nicht in die Augen – deshalb wurde gesagt, dass ich lüge… ich dachte dann… alles was ich sage ist vielleicht eine Lüge.
So habe ich eigentlich gelernt, das zu sein, was man über mich sagte. Zumindest dachte ich, dass ich so bin.
Das zog sich durch meine ganze Entwicklung, in allen sozialen Situationen. So wurde ich mir eigentlich immer fremder..
Heute zb kann ich mit dem Wissen an meine Kinder ganz anders herangehen. Wenn mein Sohn ein für mich muffeliges Gesicht zieht, dann urteile ich nicht – ich frage ihn.
Dann sagt er – “Mama das bin ich doch gar nicht.”
Es käme mir nie in den Sinn dann zu sagen, “doch das bist du… weil dein Gesicht so aussieht.”
Ich muss doch meinem Kind überlassen ob es so fühlt. Ob die Emotion die ich glaube zu sehen, seine ist.
Die Beurteilung eines anderen über die eigene Person, hatte unglaublich Einfluss darauf, welche Vorstellung ich von mir selbst hatte.

Meine erste Therapie hatte ich mit 16 Jahren.
Ein Arzt erklärte damals ich habe eine Essstörung.
Ich? So kam mir das nicht vor. Das passte so gar nicht zu meinen wirklichen Problemen und Schwierigkeiten.
Aber nun, ich musste ihm ja glauben – er war ja der Arzt – und ich war nur – ich.
30 Jahre hatte ich so das Stigma eine psychisch kranke Person zu sein. 30 Jahre habe ich quasi Bulimie gelebt – und das Klischee erfüllt. Damals in der Klinik habe ich dann andere mit Essstörungen beobachtet.
Wie verhalten sie sich denn?
“Aha— so verhält man sich wenn man eine Essstörung hat.”
Nach ein paarmal Überwindung hatte ich dann raus wie man erbricht. Und konnte die Diagnose, die man mir gab, erfüllen.
Bis ich dachte dass ich es bin – 30 Jahre.
Es war auch ein Druck in mir – der sich befreite, wenn ich erbrach.
Es war wie ein Zwang. Ein Ritual. Ohne dem, erfüllte ich nicht was ich war. Ohne dem ging es mir nicht gut. 30 Jahre lang.

Als ich die Diagnose Autismus erhielt und damit in ganz andere Reflektionsbereiche kam – auch im Austausch mit anderen Betroffenen – erfuhr und ahnte ich, dass dieses rituelle Handeln so etwas wie Stimming sein konnte. Zwanghaft…

Ich dachte, wenn das der Fall ist, dann war Bulimie nie mein Problem. Und ich dachte mir, ich könnte eine andere Form des Stimmings als Ersatz für das Erbrechen finden, was ebenso den innerlich aufkommenden Druck abbaut.
Ich dachte, wenn ich es umleite auf zB exzessive Beschäftigung mit Musik, könnte das vielleicht ein guter Ersatz sein.

30 Jahre haben Therapeuten an mir therapiert ohne Erfolg.
30 Jahre am Thema vorbei. Und damit auch an mir.

Das Wissen, dass der Autismus Stimulanzien benötigt, die beim Ordnen helfen, die den Druck ausgleichen, reichte aus, um aus eigenem, rein logischen und kognitiv erarbeiteten Wissen nach so langer Zeit, das Thema abzuhaken.
Ich habe von dem Tag an nicht mehr Erbrochen, von dem an ich wusste – ich hab Recht – ich hatte es ja die ganze Zeit nicht als meins angesehen.
Was die glaubten, was ich war, habe ich lediglich bedient.
So erleichternd war das, zu erkennen, dass ich all das, was ich fühlte, ganz tief in mir, nicht falsch fühlte. Sondern das war ich und jedes Gefühl in mir berechtigt.

Was heißt das, bei allem positiven Schlussfolgerungen daraus?

Das heißt, dass ich 30 Jahre an mir vorbei gelebt habe. Mich wie ein Fremdkörper fühlte. Dass ich erst dann anfangen konnte, mich wirklich kennen zu lernen.
Mir ging es mental noch nie so gut – wie seitdem ich weiß, dass ich einfach nur eine andere Spezies Mensch bin.
Und dass es von mir einige gibt, die so denken und ähnlich fühlen.
Natürlich habe ich die mit dem Autismus einhergehenden Belastungen – Überforderungen und immer wieder die Missverständnisse mit meinen Mitmenschen – einfach weil wir auf völlig unterschiedlichen Kommunikationsebenen kommunizieren.
Und das ist schwer genug – ja – das bedeutet viel Kraft – immer wieder erklären und immer wieder über die eigenen Grenzen gehen.
Aber ich bin nicht psychisch krank und alleine das für sich selbst zu wissen, ist die Befreiung die überhaupt seelische Heilung zulässt. Die seelische Heilung möglich macht.

Ich glaube, dass es damals für viele so wirkte. Wahrscheinlich erfüllte ich einige passende Symptome, die damals an das denken ließen, was man mir an Stigmatisierungen gab.
Ich glaube auch, dass es schwierig war das zu erkennen.
Und vor 30 Jahren war es auch Essstörung en vogue.
Asperger kannte ja keiner.

Und wenn von dem einen Arzt oder Psychologen bereits der Begriff als Verdacht in der Akte vermerkt wird – macht sich der nächste ein passendes Bild von mir.  Es ist so viel einfacher, als einen Kollegen zu hinterfragen – vor allem wenn er höher gestellt ist.
Vielleicht machen gerade Autisten eine solche Außenbeurteilung leichter, weil sie selbst oft nicht in der Lage sind für sich zu sprechen und ihre Bedürfnisse und Emotionen deutlich zu machen.
Vielleicht sind Autisten anfälliger für falsche Annahmen Außenstehender.
Vielleicht hätte ein Mensch ohne Autismus dieses Klischee nicht 30 Jahre bedient.

Ich glaube oft, wenn ich zurückdenke, dass ich das alles so nicht mehr lange mitgemacht hätte. Ich denke, dass ich heute nicht mehr wäre, wenn ich nicht durch die Diagnose erfahren hätte, wer und was ich wirklich bin.
Erst dann konnten Maßnahmen greifen, die genau da ansetzen wo ich Hilfen brauche.
Ich brauche sie- meine Schwierigkeiten sind nicht mit der Diagnosevergabe erledigt.

Aber da begann dann endlich mein Teil der Arbeit. Erst da und nicht anders wäre es möglich geworden.
Ich erfahre genau wie alle anderen, das was eben schon erwähnt wurde.
Nämlich dass mit zunehmender Belastung und Anforderung nicht mehr die Kraft reicht, mich zu verstellen.
Aber alle Hilfen können nur dann greifen, wenn sie individuell für denjenigen passen. Das gilt für alle Personen.
Autisten ist nicht geholfen, wenn ihr anderes Denken unberücksichtigt bleibt.

Katrin Kornke

 

Wir möchten Sie auf unseren Autismus-Kongress in Wuppertal am 10 November 2018 aufmerksam machen. Er wird ausschließlich gestaltet und ausgerichtet von Autisten.
Referenten u.a sind
Dr.Christine Preißmann
Regine Winkelmann
Katrin Kornke
Dieter Klawan

 

 

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