Schlagwort: Alleine sein

Bleibt in meiner Nähe, …wenn ich allein sein muss.

hier nur die gekürzte Fortsetzung von:  „Flucht in die Magersucht..

https://heutebinichanders.wordpress.com/2013/05/05/flucht-in-die-magersucht-ist-auch-keine-losung/

Es wäre mir wohl kaum ohne die Hilfe, den Zuspruch und die ständige Rückversicherung meiner Freunde gelungen eine eigene Wohnung zu suchen und den entscheidenden Schritt zu wagen, mich aus dieser Beziehung zurückzuziehen.

Die wiederholte Frage, ob sie mich auch wirklich nicht alleine ließen, wenn ich nicht mehr mit Axel in einer Wohnung, sondern in einer eigenen und ganz alleine leben würde, wurde immer wieder bestätigt.

Trotzdem musste ich ständig erneut das Selbe fragen aber erhielt erstaunlicherweise von ihnen die wiederkehrende beruhigende Aussage: obwohl ich ihnen sicher bereits tüchtig damit auf die Nerven fiel.

Vor einer Isolation hatte ich furchtbare Angst. Mir war absolut bewusst, dass ich ohne Begleiter weder an jeden Tag die Kraft aufbrachte, den üblichen Rhythmus und die Termine der Uni wahrzunehmen, noch dass ich es schaffen würde, regelmäßig alleine Einkäufe und damit meine Versorgung zu sichern. Ich wusste, dass ich an einigen Tagen die Wohnung nicht einmal verlassen würde um den Briefkasten zu öffnen.

Aber ich wusste einfach nicht wieso.

Es wäre mir nicht eingefallen, hier die anderen über meine „Untauglichkeit“ zu informieren, sie hätten es sicher nicht verstanden, eine vernünftige Erklärung dafür hätte ich auch nicht geben können

Der Umzug war mit den wenigen Dingen, die ich besaß auch schnell erledigt. Die erste Nacht war fast schlaflos. Die Wohnung lag im ersten Stock in der Einkaufszone der Innenstadt. Die Geräusche waren mir fremd und es hielten sich viele Menschen in der Nacht draußen auf. Ihre Unterhaltungen konnte ich Wort für Wort verstehen. Ich lag mit offenen Augen an die Decke starrend auf meinem Bett. Lichter wanderten über die Wand und Zimmerdecke, die von den Scheinwerfern vorbeifahrender Autos stammten. Da ich das Fenster, wegen der stickigen Sommerluft geöffnet halten musste, roch ich sogar die Personen, die auf der Straße rauchend, parfümiert oder mit Essen aus dem Schnellimbiss kamen.

Wie sollte ich hier Ruhe und Schlaf finden? Wie sollte ich hier so alleine überhaupt leben können? Wie sollte ich denn morgen in die Uni kommen, welcher Tag war überhaupt morgen?

Wie sollte es denn mit mir weitergehen und wenn ich nun nicht regelmäßig in die Uni gehen würde, dann würden meine Freunde am Ende mich doch vergessen haben und nicht mehr wiedererkennen.

Ich steigerte mich in die düstersten Gedanken und ermahnte mich selber, gefälligst ruhig zu atmen und keine Panik aufkommen zu lassen. Meine Furcht hatte mich trotzdem so im Griff, dass ich vorsorglich aufstand, mich anzog und anstatt auf dem Bett, mich in den Flur auf dem Teppich legte. Für alle Fälle wollte ich fluchtbereit bleiben. Vor was ich genau glaubte fliehen zu müssen, kann ich nicht sagen, aber diese Tendenzen in ausweglosen Situationen, weglaufen oder wegfahren zu wollen, ohne ein sinnvolles Ziel zu kennen, habe ich noch heute hin und wieder.

Im Flur auf dem Boden lag ich nun und nahm wahr, dass es bereits draußen wieder heller wurde. So muss ich dann doch eingeschlafen sein, denn ich schreckte hoch, als es klingelte…

…Es schellte nochmal und nochmal, laut und schrill, sodass ich doch öffnen musste.

Karo und Karl standen mit frischen Brötchen und einer Einkaufstüte vor der Tür.

Wie ich denn geschlafen habe, fragten sie und drückten mir gleich den Kaffee in die Hand. Wo denn die Teller wären, fragte Karl und wie ich denn denn das Regal aufstellen wollte.

Wir hatten ein sorgloses Frühstück und ich erzählte ihnen nichts von meiner Nacht, die ich zur Hälfte im Flur verbrachte.

Meine Sorge war vorüber und eigentlich gab es auch keinen Grund dazu. Es half mir zu wissen, dass wir doch auch unseren gemeinsamen Arbeitsraum hatten, in den ich jederzeit, wenn ich es alleine in der Wohnung nicht mehr aushielt gehen konnte. Diesen Arbeitsraum hatten wir zu 6 Studenten angemietet, er war unser fester Treffpunkt seit über einem Jahr in unmittelbarer Nähe zur Uni. Hier war immer einer von uns. Und wenn nicht, dann dauerte es nie allzu lange, bis jemand kam….

Es scheint für viele Autisten typisch zu sein, dass ihnen das Alleinesein und der Rückzug aus Gesellschaftsverpflichtungen ein Bedürfnis ist.

Das wirkt dann mitunter für Außenstehende paradox, da ja oft gleichzeitig eine geradezu kindliche Anhänglichkeit besteht.

Ich denke, Außenstehende differenzieren in dem Moment nicht zwischen den beiden Begriffen „Einsamkeit“ und „Allein“. Selbstverständlich leiden auch Autisten unter einer empfundenen Einsamkeit und Isolation.

Der Unterschied zwischen Einsamkeit und Alleinesein ist doch deutlich.

Alleine ist eine Person, die sich bezogen auf eine definierte Raumsituation oder gewissen Zeitspanne in Abwesenheit anderer befindet. Es ist ein physischer Zustand.

Einsamkeit ist die Empfindung einer Person, die sich in einem isolierten Zustand sieht. Diese gefühlte Einsamkeit ist im Gegensatz zu einem selbst gewählten Alleinesein, eine sehr traurige und als bedrohlich empfundene Situation. Das ist ein psychischer Zustand.

Selbst in Menschenmengen kann eine Person Einsamkeit empfinden, wenn sie von Menschen umgeben ist, mit denen es sich nicht nach Gemeinsamkeit anfühlt. Wenn es Menschen sind, die einem nichts mitteilen, weil ihr Kontext, ihre Sprache und ihre Sichtweise eine so ganz andere ist, als die eigene.

Viele Autisten fühlen sich einsam in diesem Sinne. Die Personen, die nämlich etwa die selben Empfindungen und Sichtweisen haben sind rar.

Für mich waren diese drei Personen, die wichtigsten Menschen während dieser Zeit.

Und Wolfgang natürlich. Er war einer der beiden Schreinermeister, die als Hochschulangestellte in der Modellbauwerkstatt arbeiteten.

Wenn ich in der Uni war, klebte ich an Wolfgang und wich ihm kaum von der Seite. Er war 13 Jahre älter als ich und hatte alleine durch den Altersvorsprung in meinen Augen absolute Führungsqualität und Vorbildfunktion für mich.

Alles hatte ich zuvor mit Axel gemeinsam gemacht. Nun suchte ich mir in jedem Bereich einen festen Begleiter, dem ich anhänglich wie ein Hund folgte. Ich machte Pause, wenn Wolfgang Pause machte. Wenn er zur Mensa ging, ging ich mit ihm. Wenn er Material besorgte oder andere Dinge außerhalb der Werkstatt zu tun hatte, setzte ich mich irgendwo hin, wo ich ganz alleine war und wartete, bis er zurück kam. In dem Unigelände gab es einen begrünten Innenhof. Meistens zog ich mich dann für diese Zeit dahin zurück. Ich war dort immer alleine, nur Wolfgang kam mich dort abholen, wenn er zurück war oder mich suchte. Es war eigentlich Wolfgangs Hof, bzw. der seiner Schildkröten.

Er hatte dort zwei große griechische Landschildkröten, die durch die Wiese krochen und so oft wie möglich, frisches Obst und Gemüse von mir bekamen. Ich legte mich manchmal neben sie ins Gras, zeichnete sie in allen möglichen Positionen und genoss diesen ruhigen Ort als meinen Rückzugsort. Wenn Wolfgang mit mir alleine war, waren wir Freunde. Im Beisein anderer Studenten machte er sich aber über meine naive Art, über meine Unsicherheit und Unselbständigkeit lustig. Das war verletzend und irritierend. Ich verstand nicht, wieso ein und der selbe Mensch, der mich noch vor wenigen Minuten umarmte, mir lustige Geschichten und Erlebnisse erzählte, in Kürze mich so unangenehm bloßstellte. Ich wusste selber, dass ich in den Augen vieler Mitstudenten sehr kindlich und naiv war. Ich versuchte ja auch mir Mühe zu geben, mich anzupassen, worauf es aber genau dabei ankam, dass ich solche kindlichen und unerwachsenen Attribute mit mir herumschleppte, das wusste ich nicht.

…Ich bemühte mich also sehr, bei Unterhaltungen nicht aufzufallen; mich angepasst zu verhalten und mir meine Unsicherheiten nicht anmerken zu lassen. Das war anstrengend und belastend. Eine andere Wahl aber hatte ich nicht. In der Uni hatte ich nicht immer Karo, Karl oder Petra dabei. Die belegten Kurse waren nicht immer identisch. Meine Aufgaben, selbst wenn sie nichts mit der Modellbauwerkstatt zu tun hatten, machte ich eben darum lieber bei Wolfgang. Das wurde  geduldet. Aber das viel eben auch auf. Damit es nicht zu irgendwelchem „Gerede“ käme, dass wir etwas miteinander hätten, mache er eben so ab und an dann seine Späße darüber, sagte Wolfgang, als ich ihn fragte, wieso er sich so unterschiedlich mir gegenüber verhielt.

Aha, das war nun wieder der Preis, für die Begleitung und die Sonderrechte, die ich als Studentin dort hatte. Ohne die ich aber nicht sein konnte und ohne die ich keine Chance gehabt hätte, die Zeit zu bestehen.

Da wir ja auch oft genug alleine waren und es damit genug Zeiten gab, wo er mir gegenüber nett und freundschaftlich sein durfte, arrangierte ich mich mit dieser Situation und ertrug es, sein Clown zu sein, wenn er sich hätte sonst für mich schämen müssen…

Wir lernen frühzeitig, dass jeder Mensch einzigartig ist.

Wenn alle Personen Individuen und somit einzigartig sind, dann haben diese wiederum genau das „Einzigartigsein“ miteinander gemein. Dies ist doch ein tröstlicher und wieder miteinander verbindender Gedanke.

Ich hatte bereits hier sehr früh das unbestimmte Gefühl, an dieser Gemeinsamkeit nicht teilhaben zu können. Denn in meiner Empfindung schien ich dann irgendwie noch einzigartiger zu sein als die anderen.

Das ist nicht selten bereits eine in frühester Kindheit erworbene Erkenntnis vieler Autisten, die erschreckend und bedrohlich wirken kann.

So entstand der Begriff „Wrong – Planet – Syndrom, da sich viele Autisten, in ihrer Annahme „falsch gelandet“ zu sein, ziemlich einig sind.

Für mich wirkte diese Erkenntnis auch immer eher beunruhigend.

Mit dieser Erkenntnis einhergehend entstand gleichzeitig die hierzu verknüpfte Empfindung der Einsamkeit.

Personen die meiner Meinung nach für meine eigenen Empfindungen und Sichtweisen ein Verständnis aufbringen oder mir als solche erscheinen, sind darum auch noch heute absolut begehrt und notwendig. An diese orientierend und an diese mich festhaltend, wage ich Schritte in unbekannte und mir fremd erscheinende Situationen. Ohne diese Personen wage ich das nicht.

Diese Personen müssen nicht einmal Kenntnis davon haben, wie schwer es mir ohne sie fallen würde das Selbe zu tun, das Gleiche zu äußern, die Selbe zu sein, die ich dann vorgeben kann zu sein.

Logischerweise ist es nie leicht gewesen, zu erkennen, ob die eine oder andere Person auch wirklich mir gegenüber diese „Führungsqualitäten“ die ich ihr zuordne verdient. Ich bin wie die meisten Autisten angewiesen auf Ehrlichkeit und Aufrichtigkeit.

Eine andere Absicht und Ambition als die, die mir mitgeteilt wird, erkenne ich nicht.

Da ich selber zu jedem Menschen, der mir Nahe ist, tiefe Loyalität empfinde und ich nicht anders kann, als meine eigene Sicht und Empfindung als Allgemeingültig voraus zusetzen, gehe ich bei jeder Freundlichkeit und Zugewandtheit anderer davon aus, dass sie ehrlich und aufrichtig gemeint ist.

Ein Trugschluss, wie ich weiß und erfahren habe. Dennoch bin ich nicht in der Lage eine hier aktive-kognitive Abwehrhaltung zu meinem persönlichen Schutz herzustellen.