„Beziehungskisten“ aus meiner (autistischen) Sicht

Aktuelle Zahlen belegen, dass die meisten erwachsenen, hochfunktionalen Autisten in einer partnerschaftlichen Beziehung leben und/oder verheiratet sind.

Das gibt doch vor, dass dies gut und unproblematisch zu funktionieren scheint.

Ganz entgegen der in der Gesamtbevölkerung vorherrschenden klischeehaften Vorstellung davon, dass Autisten ja nicht beziehungsfähig seien.

Ich lebe ebenfalls in einer festen Partnerschaft mit meinem Mann, der Vater meiner vier Kinder ist.

Und das ist gut so.

Ich brauche und benötige intakte und verlässliche Beziehungen. Ich brauche Menschen, die mir vertraut sind und an deren Seite ich mich sicher fühle.

Meines Erachtens benötigen das die meisten Menschen aber ganz sicher, die meisten Autisten.

Da es mir oft nicht gelingt, aus der Intuition heraus, die Menschen einschätzen und verstehen zu können, ist mir eine bekannte verlässliche Person an meiner Seite eine große Hilfe. Durch ihre mir bekannte Stimmung, an ihrem mir bekannten Verhalten, den Äußerungen, ist es mir möglich zu erkennen, wie sicher oder wie riskant es gerade ist, in einer fremden Menschengruppe zu sein. Ohne so ein „Barometer“ an meiner Seite ist jede neue Begegnung eine unglaubliche Mühe und ein mit Missverständnissen und Irritationen übersäter Kampfplatz.

Ohne gute Beziehungen und intakte Freundschaften, hätte so manches in meinem Leben so anders kommen können.

Wenn ich zurückblicke auf meine ersten Erfahrungen mit Menschen, die nicht unmittelbar zu meiner Familie gehörten, dann war das Kindergarten und Schulzeit.

Der Kindergarten war kurz und schmerzhaft, aber eben aufgrund der Kürze ohne nennenswerte Bedeutung. Doch habe ich hier bereits erkannt, das Fremde eine unangenehme Empfindungen in mir auslösten. Und ich habe gelernt mich mit Stille und Schweigen in mir selber verstecken zu können, wenn es Not tut.

In der Schule war es anders. Hier mussten mehr Erwartungen erfüllt werden und die ersten Grundschuljahre erlebte ich mit regelmäßigem Krankheitsgefühl und manchmal mit Erbrechen im Klassenzimmer.

Ich verstand meine Mitschüler nicht. Nicht ihre Art und nicht ihre Spiele. Die Späße waren dumm oder nicht witzig. Meine Späße schienen sie wiederum nicht zu verstehen und so gab es wenige oder nur sparsame Beziehungen.

Die wenigen aber, benötigte ich so dringend, dass ich für sie hätte alles gegeben. Die wenigen nämlich, brauchte ich nicht für meinen eigenen Zeitvertreib, dafür reichte ich mir vollkommen alleine. Die wenigen benötigte ich zu meiner Sicherheit an meiner Seite, als Barometer, das mir anzeigt, wann eine Situation eine Spaßige und wann sie eine Ernste war. Wann und was es galt zu äußern oder wann man besser den Mund hielt. Ich kopierte mitunter sämtliche Verhaltensgewohnheiten einer jeden Mitschülerin, die sich eine Zeit lang „meine Freundin“ nannte. Bis hin zum Dialekt, den ich in den Sommerferien an nahm.

Ohne dies beeinflussen zu können.

Bei der üblichen Frage, die im Zusammenhang mit einer Autismusdiagnose gestellt wird: „ …hatten Sie Freunde?“ antworte ich daher wahrheitsgemäß mit „Ja“.

Ohne diesen Begleitern hätte ich nämlich nicht die Schulzeit überstanden.

Ob „meine Freunde“ nun vergleichbar sind, mit den Freunden und den Freundschaftserwartungen der anderen Menschen, weiß ich nicht zu beurteilen. Es mag da unterschiedliche Auffassungen geben.

Je älter wir in unserem Klassenverband wurden, je diffuser wurden mir die sozialen Regeln. Es schien nie wirklich etwas zu stimmen. Ich konnte nie sicher gehen, eine Bemerkung, einen Witz, eine Äußerung richtig verstanden zu haben. Meine Reaktionen und Antworten waren meistens für die anderen „der Brüller“

Ich hatte das Gefühl ich passe nicht annähernd und niemals in das übliche Schema. Sie und ich wurden älter und doch immer verschiedener. Sie wurden älter in Dingen, wo ich Kind blieb. Sie waren Kinder in meinen Augen, wo ich mich sehr erwachsen und abgeklärt fühlte. Eine Schere die auseinander ging, und die ich heute noch so empfinde und auch an meinen Kindern und deren Altersentsprechungen ebenso beobachtet habe.

Soziale Verwirrungen klären und nachfagen konnte ich bei wenigen. Denn die Mädchen waren heute freundlich und morgen alles andere als das. Die Jungen meistens freundlich aber in sozialen Verwirrungen schienen sie ungeeignete Übersetzer zu sein. Jeder Tag war riskant und unberechenbar. Jeder Tag aufs Neue eine Anstrengung. Das schlimmste waren Pausen oder Freistunden. Die größten Katastrophen aber Klassenfahrten.

Regelmäßig war oder wurde ich dort krank. Die dauerhafte Anstrengung der sozialen Missverständnisse, die Anpassungsbemühungen, der fremde Ort, der fremde Rhythmus und keine Chance auf Rückzug brachte mich (so weiß ich heute) jeden Tag in Overloadzustände. Für die anderen sah es anders aus.

Entweder war ich in ihren Augen krank oder ich stellte mich an. Entweder war ich frech oder blöd.

Wenn man sich nicht mitteilen und seine Bedürfnisse verständlich machen kann, erfindet der Körper Strategien, die ihm die nötigen Ressourcen sichern, die er unmittelbar zum Durchhalten braucht. Durchhalten wenigstens diese fünf Tage. Eine Fahrt in die Eifel von Montag bis Freitag.

Mit Erbrechen und starken Kopfschmerzen durfte ich ins Bett. Mit Windpocken brauchte ich nicht an den allgemeinen Veranstaltungen, Tagesprogramm, etc. teilzunehmen. Ich war raus aus der Nummer, wenn ich nur genügend Symptome hatte.

So wird Krankheit zum Mittel.

Eine verlässliche Begleitung/Beziehung hätte ich benötigt. Die hätte es erleichtert und mit ihr hätte ich die Chance gehabt einige soziale Irritationen zu verstehen und möglicherweise zu umgehen.

Was mir nicht aus der Intuition ersichtlich ist, versuche ich zu erfahren. Wenn ich einen Begleiter habe, dann erfrage ich unverständliches bei ihm.

Wenn ich keinen Begleiter habe, erkläre ich mir mit vielen Verwirrungen die undurchsichtigen Äußerungen, Erlebnisse, Beobachtungen sozialer Zwischenmenschlichkeit eben selber.

Beides birgt Risiken.

Kann man einer Begleitung, einer Person, an die man sich aus Not anhänglich orientiert denn so bedingungslos trauen? Sind ihre Erklärungen denn allgemeingültig und entsprechen den moralischen, sozialen Standards?

Natürlich nicht, sagten meine Eltern und erklärten mir, dass ich doch nicht immer wieder so hoffnungslos naiv und vorbehaltlos sein sollte.

Vieles, was sie beunruhigt hätte, erzählte ich dann lieber gar nicht erst.

Dass ich als 14 Jährige nach der Schule in der Wohnung alleine unter Panikattacken litt, konnte man mit Logik und Vernunft sowieso niemanden sagen. Es gab keine Gründe für diese Angstzustände die ich empfand, wenn ich in der großen Wohnung alleine war.

Also musste es an meinem verrückten Hirn liegen, das mir da Sichterscheinungen und Geräusche vorspielte, die es gar nicht gab. Solche Menschen, die etwas wahrnehmen was nicht wahr sei, sind an Schizophrenie erkrankte Menschen, die man in einer Klinik behandeln muss, erklärte mein Vater.

Also verschwieg ich nach ein paar flüchtigen Versuchen, hier zu erfahren was mit mir los sei, diese unangenehmen Empfindungen und Ängste.

In der Wohnung blieb ich aber auch nicht, sondern besuchte regelmäßig über viele Wochen eine Gruppe iranischer Studenten in ihrer Wohngemeinschaft. Dort machte ich meine Hausaufgaben, aß mit ihnen zu Mittag und kuschelte mich gerne zwischen ihnen auf ein Sofa und hörte einfach denen bei ihren fremdländischen Unterhaltungen und Diskussionen zu. Ich gehörte dazu und fühlte mich wohl. Keiner erwartete etwas von mir. Ich konnte sie ja nicht verstehen, also brauchte ich mir keine Mühe geben. Ich wurde begrüßt und umarmt. Niemals in der Zeit hat mich einer von ihnen genötigt oder auf eine sexuell belästigende Weise berührt. Ich war ihnen wohl eher ein Kind oder ein Hund. Aber ich war mir dort sehr sicher.

Eines Tages war die Türe verschlossen und mit einem Klebesiegel versehen. Ich klopfte und trat verzweifelt dagegen, meine Freunde waren alle weg. Es roch in dem Flur nach den üblichen Gewürzen, mit dem das Mittagessen immer gewürzt wurde. Es roch nach dem Rasierwasser und es war so vertraut und doch alles anders. Ich saß lange verzweifelt in der Ecke des Flures und schlief ein, bis ein Nachbar kam, der ab und zu auch in der Studentenrunde saß. Er half mir umständlich in die Jacke und wischte mit einen nicht so ganz sauberen Taschentuch über mein Gesicht. Murmelte etwas von Polizei und Iran und Familie und ich weiß nicht mehr. Küsste mich auf beide Wangen, sagte: „ Du liebe Mädchen, geh jetzt und komm nicht zurück.“

Das tat ich auch nicht. Ich mied diese Straße bis heute und ich weiß bis heute nicht, was mit ihnen passiert ist.

Ich denke lieber nicht darüber nach und auch nicht darüber, was mir als 14 – Jährige in dieser Wohnung alles erspart geblieben ist, was hätte mir dort durch meine Naivität so alles passieren können, wenn dies nicht so wunderbare Menschen mit guten Absichten gewesen wären.

Fortsetzung zu diesem Artikel hier:

https://heutebinichanders.wordpress.com/2013/04/28/beziehungen-oder-abhangigkeiten/

3 Gedanken zu “„Beziehungskisten“ aus meiner (autistischen) Sicht

  1. Ja Regine, Du hast enormes Glück gehabt!

    Und ohne Begleiter ist es sehr schwer, „da draußen“ den Überblick zu behalten.

    Was uns bei den Kinder glückt (Struktur geben, Halt vermitteln, Agieren) können wir für uns selber selten oder nur mangelhaft.

    Und die Gruppen, an die man sich anschließt, um endlich aufgehoben oder gar anerkannt zu sein, können einem viel Schaden zufügen.

    Ebenso Menschen, denen man in Naivität vertraut. Man vertraut darauf, nicht angelogen zu werden. Und wenn es dann doch passiert ist, dann steht man vor den Trümmern seines Selbstbewusstsein.

    Dies habe ich bei mir erlebt , dies sehe ich bei meinen Kindern und das Schlimme ist; man kann nur daneben stehen.

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  2. Eine verlässliche Bezugsperson ist mir auch sehr wichtig und immer wichtig gewesen. Allerdings nicht in Form einer Partnerschaft. Die hat bei mir nie funktioniert, weil ich schnell damit überfordert war und in einem Partner nie den Menschen gesehen habe, der mir in schwierigen Situationen hilft. Im Gegenteil – ich habe die Partnerschaft immer als schwierige Situation erlebt und hätte jemand gebraucht, der mir erklärt, wie Partnerschaft funktioniert und wie das Verhalten des Partners zu verstehen ist. Was die aktuellen Zahlen von AutistInnen betrifft, die in einer partnerschaftlichen Beziehung leben, würde mich interessieren, wie hoch der Anteil ist.

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    1. Ja Sabine, auf die weiblichen Autisten bezogen ist dies ja sicher auchnnochmal etwas anderes. Außerdem sagt die Zahl auch noch nichts über die Quallität. Ob es sich nämlich um eine Beziehung oder um eine Abhängigkeit handelt. Darum halte ich dbzgl. nicht alzu viel von solchen Statistiken

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